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Wolfgang Heidenreich

Mein Alemannien

Notizen über einen Lebensraum mitten in Europa

Bevor ich erfuhr, daß man meine freiburger Heimat einer Sprach- und Kulturlandschaft namens Alemannien zuordnen kann, in der sprachverwandte Nachbarn in 5 Ländern (im französischen Elsaß, in der deutschsprachigen Schweiz, im helvetisch-rätischen Liechtenstein, im vorarlberger Österrreich und im schwäbisch-alemannischen Südwestdeutschland) sich über alle Grenzziehungen und nationalen Identitätsfindungen hinweg ohne Dolmetscher alemannisch verständigen können, bestand mein Alemannien aus einer Stadt, nein, genauer: aus dieser nußbaumbegrünten, kinderreichen freiburger Stadtrandstraße, in der ich aufgewachsen bin. Das städtisch geglättete, aber noch viele ländliche Herzhaftigkeiten bewahrende, melodische breisgauer Alemannisch meiner Mutter gab den familiären, intimen Klang unserer häuslichen Sprachwelt an, in dem die Sprechweisen der Vorfahren mitmusizierten und mitartikulierten: Sie waren jahrhundertelang Fischer, Bootsleute am Bodensee, Kleinbauern und Handwerker im Breisgau gewesen (eine Region, die 400 Jahre lang vorderösterreichisch zu Wien gehörte). Und die österreichischen Jahrhunderte hatten der Familie allerhand alpine und südtirolerische Gene importiert. Dazu schauten über die fränkisch-pfälzische Verwandtschaft meiner Großmutter von des Vaters Seite auch ein paar französische Gesichter herein. Die lehrerhaft abgeschliffene, aber zu Sprachwitz neigende Sprechweise meines immer auf vielen Instrumenten musizierenden Vaters verschwand aus dieser familiären Welt, ging unter in der Welt des Kriegs. Er schickte zuerst siegesgewisse, dann heimwehkranke Briefe aus Frankreich, Rußland, verstummte dann, als er den großen deutschen Wahn mit seinem kleinen, aber für ihn einzigen, für mich fremden Leben bezahlte.

Als er mit Hitlers Heer zuerst zum Erobern, dann zum Sterben verschwand, erlebte ich zwei weitere, mir fremde Sprachen: Die der Schule, die den Kindern meines Jahrgangs verkündete, wir seien im Jahr des Heils (1933) geboren; und die des Rundfunks mit seinen Propagandafanfaren, dazu die der täglichen Zeitung, die den Titel DER ALEMANNE trug und ein biedergiftiges Kampfblatt der Nazis war. Die blecherne, geschwollene Pathetik und Polemik der kriegsvergifteten öffentlichen Sprache, dazu die in halbmilitärischen Befehlstönen daherrasselnde Sprache der Schule, das war eine von Befehlen, Aufrufen, Appellen knarrende, uniformierte Sprachwelt der kaum einmal zivilen Nazilehrer, die von uns Kindern erwarteten, schnell wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein, um bald als Kinder einer Herrenrasse und siegreicher Soldaten in all den niedergeworfenen Ländern das Sagen zu übernehmen – die familiäre, herzlichrauhe Mundart konnte das schwerlich sein. Dieses unsoldatische Sprechen erlebte ich in den Höfen, Werkstätten meiner Straße, in den Kinderspielen und Raufereien mit den Spielhorden anderer Straßen, und bald auch, als der Hunger in unsere Häuser einzog, bei den geizigen Bauern rings um die Stadt, die wir bei allerlei rauhen Tauschgeschäften (Kartoffeln gegen Teppiche) als ungemütlich barsche und harte Sprecher im Umgang mit Mensch und Tier kennenlernten.

Mit zwölf, dreizehn Jahren konnte ich dann den Einsturz Nazi-Alemanniens besichtigen, die Demontage einer Sprachkulisse, hinter der die Trauer, die Scham, die Heuchelei, die demontierten Heldenbilder hervorkamen. Nur die Mundart konnte ihre alten Räder weiterdrehen, als habe sie nicht das ihrige zum Blut- und Bodenwahn beigetragen, als sei sie nicht im Mund von Nazi-Barden zur angemaßten Ursprungs- und Kraftsprache des germanenstämmigen Volks umgelogen worden. Ja, die Mundart reimte nun von einer heilen Heimat, als sei sie bei keiner Bluthochzeit dabei gewesen.

Dies war für die Kinder der gescheiterten Aggressoren nun die Stunde der französischen Umerziehungskommandos, die unsre Nachkriegsschulen mit dem Ersatzglas vor den zerschossenen Fenstern betraten, um uns in unnachsichtigem Ton mit einer neuen Botschaft zu konfrontieren: Es sei nun unsre Sache, uns mit unsern quadratischen und schweren Alemannenschädeln über die Bücher zu beugen, um die Veranlagung zur Unkultur und die Folgen der Barbarei aus uns herauszuarbeiten. Über uns hinweg schwinge sich leicht und elegant der rasche Geist der französischen Sieger in die Zukunft einer neuen Rangordnung, in der romanische Verstandeshelle der germanischen Willensdumpfheit zu zeigen habe, wohin der Weg aus der Barbarei in die Kultur führe. So prägte sich die Siegerpose einer Herrschaftssprache ein, vor der L’ Allemagne im Staub zu knien hatte, bevor sie wieder aufrecht gehen lernen durfte..

Lange trug mein von arroganten Kommissaren de-klassiertes Gedächtnis die Schamröte jener Lehrjahre im Gesicht. Mein Alemannien büßte es, namensgleich für die Schmach de L’Allemagne zu stehen, und die bei uns gesprochenen und geschriebenen Sprachen trugen allesamt den Makel der Niederlage und Unterlegenheit, die in der Mundart doppelter Deklassierung unterworfen war.

Und es bedurfte nun kräftiger Lernschritte des Studenten der deutschen Sprache und Literatur, um mein Alemannien als Ort der Selbstachtung und mein Alemannisch als nachbarschaftliche Verständigungssprache zu entdecken. Dies geschah über Büchern, beim Entdecken der Übersetzergenialität der frühen Mönche, der epischen und lyrischen Meisterschaft der Minnesänger, der Renaissance-Aufbrüche, des humanistischen, grenzüberschreitenden Bildungsoptimismus in unserer Region. Eine Aufbruchs- und Hoffnungslandschaft tat sich auf, vitales, freiheitliches Leben und Wirken von Dichtern, Buchdruckern, Predigern, Künstlern und Stadtbürgern zwischen Mailand, Basel, Colmar, Freiburg, Straßburg, Mainz und Köln, ein Lebensraum auch für aufblühende und in kulturellen Gebrauch genommene Volkssprachen, mit denen unsere Vorfahren in diesem von einem schöpferischen Wind durchwehten Alemannien freigeistig und sprachverliebt, aufklärerisch und humorvoll umzugehen lernten.

So fuhr ich ins Freie mit dem NARRENSCHIFF des Sebastian Brant (1457-1521), sang mit Erasmus das urbane, in drei Tagen bei Thomas Morus in England geschriebene LOB DER TORHEIT (1511) – diese phantasievollen und geistreichen Werke unabhängiger und vorurteilsfreier Geister machten den Blick frei und schärften die Ohren, schufen Distanz zum Lauf der Welt, gaben der Region, in der sie entstanden waren, Würde und Tiefe.

Aber nicht nur über Büchern erholte sich mein Alemannien aus der Verächtlichkeit: Es war ja Mitte der 50-er Jahre wieder möglich, im kleinen Grenzverkehr in die Schweiz und ins Elsaß zu fahren, ein geschichtstieferes Heimaterlebnis zu erwerben – mit dem Fahrrad pilgerten wir übers zertrümmerte Breisach nach Colmar, um den Isenheimer Altar zu sehen – Weltkunst half unserm Weltbild auf die Beine. In Basels Museen sahen wir die aufregenden Ausdruckswelten moderner Maler und Bildhauer, die den Nazis als entartet gegolten hatten, uns vorenthalten worden waren. Wir studierten die Romanik des Elsaß und die gotischen Dome und suchten an Straßburgs Münster die Gravur des jungen Goethe – Alemannien wurde wieder reich, und alle durchziehenden Heere, alle Mordbrenner der Erbfolgekriege, alle Bilderstürmer und alle Säbelrassler hatten diese Schätze nur zerkratzen, nicht aus dem Besitz dieses anderen, und wie wir hofften, wahren Alemanniens herausreißen können.

Aber auch ein ganz anderes, sehr handfestes Erlebnis prägte sich mir ein: Ich arbeitete als Werkstudent im Schweizer Jura, baute mit Schweizer Bauern und Handwerkern an der Wasserversorgung eines Bergdorfs, saß täglich am Tisch einer Großfamilie, die es kaum begreifen wollte, daß ein studierender Mensch mit seinen Händen in der steinigen Juraerde wühlt. Da war es kein Leben in der harten Fremde, sondern ein Nachbarschaft-Gefühl, sich mit der eigenen Zunge ausdrücken zu dürfen und verstanden zu werden, gastlich aufgenommen zu sein bei rauh und herzhaft sprechenden nahen Verwandten einer Sprachfamilie.

So reicherte sich “mein Alemannien” an mit Sprachklängen, Gedankenreichtum, Kunstschätzen, Lebensläufen, Lebensgefühl – mit einer sympathischen Verwandtschaft und einem stattlichen Potential friedlicher, toleranter, zur Daseinskultur und zur Koexistenz begabter Geister, ein Potential, so hoffte und hoffe ich noch heute, das mächtiger sein könnte, als die Zerstörungswut der Kriege und die Habsucht und Herrschsucht der Herren. Was die in unserer Region mit ihren hin- und hergezerrten Grenzen immer wieder begehrlich ausgelebte Hab- und Zanksucht bewirkte, das konnte ich in der auf einem seit Urzeiten besiedelten Felsen liegende Stadt Breisach am Rhein erfahren: Hin- und hergerissen zwischen Habsburg und Frankreich, wurde es immer wieder niedergebrannt, zerschossen, wieder aufgebaut, erneut in Trümmer gelegt – ein rheinisches Troja, dessen Zerstörungserfahrungen exemplarisch für die dringendste Lektion der europäischen Geschichte stehen. Die Bürger dieser Stadt haben ihre Lektion begriffen, und wie Schliemann aus den trojanischen Brandhorizonten, aus ihren Erinnerungen und Leiden einen logischen Gedanken herausgegraben: Sie stimmten als erste Bürgerschaft in Europa in einer Wahl dafür, ein gemeinsames Europa zu schaffen, um die Pestzeit der Kriege zu beenden – hier sprach die bitter erworbene Weisheit der gebrannten Kinder, die auch eine Weisheit meines Alemanniens ist.

Ich bin nach meinem Studium in dieser Landschaft geblieben, habe für den Rundfunk gearbeitet, dessen Wellen alle Grenzen überschreiten. Mit Freunden aus Basel und Straßburg haben wir in Freiburg die erste grenzüberschreitende, französisch-schweizerisch-deutsche Gemeinschaftssendung ins Leben gerufen und über Jahrzehnte fortgesetzt, ein kleines Medienforum praktizierter Koexistenz. Aus der Erfahrung dieses Miteinandersprechens resultiert keine Euphorie, sondern Realismus: Bei uns finden keine transrhenanischen Dauerumarmungen statt. Das Elsaß definiert sich immer französischer, wählt kräftig rechts, strebt Pariser Karrieren an, lernt hochdeutsch, vergißt die Mundart, und unsre Kinder reden englisch miteinander. Das Schweizer Selbstgefühl definiert sich nicht als alemannisch, sondern als helvetisch-rhäto-romanisch-tessinerisch und mit der Distanz der Suisse romande; sein Blick auf den dicken deutschen Nachbarn ist kein Liebesblick, und sein Blick in den Schweizer Spiegel ist trotz aller Milliardentüchtigkeit, oder besser, wegen mancher bedenkenlosen und echte Neutralität verhöhnenden Geschäftstüchtigkeit von einigen Sebstzweifeln und Zukunftssorgen angekränkelt. Der Zeitgeist in Deutschland wiederum sorgt sich eher um den Euro, als ums evidente Dahinkümmern nicht nur der Mundart, sondern auch der von den Massenmedien marginalisierten Wortkultur. Und eine politische Kultur, die einen in der Globalisierung wild gewordenen, soziale Gerechtigkeitspflichten verschludernden Kapitalismus nicht mehr dazu bringen kann, den Menschen Arbeit und dem Gemeinwesen Steuern zu schaffen, hat ohnehin für Nischensorgen, wie das Wegkümmern von Sprach- und Mundartkompetenz, für das Wegsterben sprachlicher Biotope nicht einmal eine Sekundensorge übrig. Im Übrigen plustern sich die kleinen deutschen Hauptstädte und das parvenuehafte, provinzielle Berlin in konkurrenzierenden Imponiertänzen und Egoismen – Regionen an den Rändern, wie mein Alemannien, können dagegen kaum noch die Energie der Hoffnung aufrechterhalten, zwischen europäischen Ländern zu einer neuen Mitte zu werden – oder liegt diese Zone der Mitte vielleicht eher in Polen, in der Ukraine ? (Nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums befindet sich das geografische Zentrum Europas in der Nähe des Karpathenstädtchens RACHIW, kurz vor der ukrainisch-rumänischen Grenze. Anm.W.M.)

Und was mein Alemannien angeht: Wäre vielleicht das Internet das internationale Narrenschiff, um junge alemannische Narren zu animieren, ihre randständige Existenz mit einer treuherzig-alemannischen Homepage einzuspeisen? Bevor ich meine Skepsis zur Säure verschärfe, in der meine alemannische Hoffnungslandschaft zu einem ökonomisch marginalisierten, ökologisch überstrapazierten, kulturell beliebigen McDonnald-Landstrich mit gelöschtem Gedächtnis korrodiert, möchte ich meinem Alemannien noch ein paar nötige Ergänzungsbilder zur Seite stellen. Diese Bilder eines jeweils anderen Alemannien können meine utopische Mentalitäts- und Kulturlandschaft Alemannien relativieren – durch die relativierenden Seitentüren aber vielleicht sogar wieder beleben und ermutigen.

Wir sollten also ein paar Blicke werfen auf das Alemannien der Stammesideologen. Dessen “Blütezeit” beginnt im frühen 19.Jahrhundert, als Herder, Fichte, Görres das geistige und gesellige Leben der Stämme als Ausformungen des Volksgeists ansahen. Hier bildet sich leider nicht nur die Wiederentdeckung der Lieder, Märchen, Bräuche aus, hier haben bald auch chauvinistische Hirngespinste ihre dumpfe Zeit: Germanenkult und Alemannophilie bilden den stammesbiologischen Wurzelstock, aus dem dann – als gesamteuropäisches Phänomen – eine rassistische und nationalistische Heimatkunst austreibt, die sich (z.B. in Deutschland) als hochindustrialisiertes, rassisch besonders buntgemengtes Volk arische Ahnen beilegte und bald darauf im ganzen besetzten und terrorisierten Europa Tod und Leben des Einzelnen davon abhängen ließ, ob er von Siegfried abstamme oder nicht. Ein Massenrausch, für den eine bestimmte Art von rassisch unterbauter Heimatliteratur besonders anfällig war. (Robert Minder, Dichter in der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1966, S.238 ff) Es nimmt groteske, mit Blick auf sogenannte ethnische Säuberungen der jüngsten Vergangenheit verzweiflungsvolle Züge an, wenn man Verse liest, wie sie der Autor Felix Dahn (1834-1912) ohne geringste Ironie verfertigte: Wie heißt der deutsche Stamm, sagt an, / Der hier den schweren Kampf begann, / Mit Blut besprengend Tal und Strom, / Den langen Riesenkampf mit Rom ? ... / Die Sieger, die dies Land gewannen, / Es sind des Schwarzwalds Edeltannen: / Die hochgemuthen Alemannen...

Daß derlei nicht nur zur folkloristischen Belebung des nationalen Seelenlebens, sozusagen als heroische Selbstkostümierung einer identitätskriselnden und desorientierten Industriegesellschaft diente, sondern zum direkten Propagandadienst für Hitlers verblasene Ideologie einer deutschen Herrenrasse führen konnte, will ich Ihnen am traurigen Beispiel des Alemannen Hermann Burte (1879-1960) dartun. Der alldeutsche Kraftmensch, der eigentlich auch ein begabter Maler und Mundartdichter war, zielte ehrgeizig und national geschwollen aus der alemannischen Randlage auf eine nationale Karriere. Die gelang ihm mit seinem antisemitischen, von nietzscheanischen und nationalen Phantasien triefenden Roman WILTFEBER, DER EWIGE DEUTSCHE, der ins Zentrum des nationalen Germanenkitschs und der imperialistischen preußischen Geltungssucht zielte: Burte erhielt 1912 für dieses wild-fiebrige Produkt den angesehenen Kleistpreis, brachte also nicht nur Kleinbürgerseelen, sondern den nationalkonservativen Kulturhorizont in Wallung. Seine Karriere treibt ihn mit Dramen, die den absoluten Befehl und die Unterordnung des Einzelnen unter den Staatsgedanken edelkitschig verherrlichen, aufs repräsentative Rednerpult der Nazis nach Weimar (bei Buchenwald), wo er, in grotesker Beweisführung, Die europäische Sendung der Deutschen Dichtung 1940 als direkten Weg von Goethe zu Hitler beschreibt. 1942 versteigt er sich am selben Reichsrednerpult zum blutrünstigen Lob des rassistischen Provinzbarden Adolf Bartels, der aus der Welt Goethes ins Reich Hitlers aufgestiegen sei, in dem das germanische Erbteil herrschend bleibt und die minderen Blutströme dienen müssen... Platz den Germanen / Oder ihr sterbt! (Hermann Burte, Sieben Reden, Straßburg 1943). Ist dieser Drang zur Dominanz und Unterwerfung, ein Drang, dem das Blut des Germanen- und Alemannenwahns zu Kopfe gestiegen ist, wirklich auch ein Kulturprodukt meines Alemanniens, auch wenn es letztlich ein trauriges Produkt des Alemanniens der Stammesideologen war? Diesen Dichter Hermann Burte, der die Welt der Industriegesellschaft nicht mehr verstanden und opportunistisch Schutz gesucht hatte beim starken Mann, ihn hätten wir als gestrige Gestalt getrost dem Orkus des Vergessens überlassen können, wenn nicht heute noch Straßen nach ihm benannt wären, wenn nicht in heimatversessenen Gasthäusern seine Handschrift als Reliquie aufbewahrt würde – bis heute. Immer noch möchte man in seiner Nähe daheim sein und dabei Heimweh nach der Heimat haben, bewußtlos und blind, wie ein 1957 geschriebener Burte-Vers: Wir schaffen fort an unserm Platz – als wäre nichts gewesen.

Es wird Zeit, rationaleres Gelände zu betreten und auf das Bild zu schauen, das ich das Alemannien der Archäologen und Anthropologen nennen möchte. Bis heute dröhnt durch die Schul- und Handbücher eine Wagner-Oper, die von der gewaltigen Kraft eines aus dem Gebiet der unteren Elbe auf den römischen Limes stürmenden einheitlich organisierten Alemannenvolkes erzählt, das mit seiner straff geführten und geballten militärischen Energie die Landnahme hinterm Limes erzwingt, das Dekumatland in einem wahren Barbarensturm leerfegt und dieses von den römischen Besetzern befreit. Selbst im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde ist bis heute nachzulesen, wie der heldensüchtige Zeitgeist des 19.Jh. das Geschichtsbild bestimmt: Die bewundernswerte Triebkraft der Alemannen, eines einheitlich organisierten Stammes, habe den Limes überwunden. Natürlich hat auch das römische Interesse, ihre schriftlosen germanischen Kontrahenten, die vom 3.Jh. an zunehmend Probleme bereiteten, zu edlen aber zivilisatorisch unterlegenen Wilden und imponierenden Kämpfern zu stilisieren, manche Klischees vorgeprägt. Die geradezu kriminalistische Finde- und Verknüpfungskunst der Archäologen und die Fundlesekunst der Anthropologen haben die wesentlichen Thesen der zeitgeistbefangenen Historiker widerlegt, relativiert und differenziert – ich gebe nur ein paar Beispiele:

Der ALEMANNENSTURM ist eine Legende. Da erscheinen zunächst wenig kohärente Gruppen sogenannter “Alemanni” – zusammengelaufener und vermischter Leute (der Name erscheint erstmals 213 n.Ch.). Sie sind auf Raubzüge und Beute aus und überziehen die galloromanische Bevölkerung aufs unedelste mit Mord und Totschlag (es gibt entsetzliche Befunde, die belegen, daß die Eindringlinge ihre Opfer geradezu tranchiert haben). 259 kann dann der Limes überschritten werden, weil im innerrömischen Machtkampf zwischen Gallienus und seinem Gegenkaiser das Militär abgezogen wird – von einem Überrennen kann keine Rede sein. Zunächst halbansässig können die Alemannen allmählich im Zeitraum einer Generation durch Duldung der Römer im Dekumatsland siedeln, Verträge schließen, Getreide, Pferde, Vieh liefern, römische Lebensformen adaptieren, sich mit der keltoromanischen Bevölkerung arrangieren und mischen. Von einer sieghaft systematischen Landnahme durch ein einheitliches Volk kann also keine Rede sein.Wir sollten vielmehr von einer nicht unprekären, aber geordneten Form der Koexistenz sprechen. Es fehlen zudem alle Kriterien, die Eindringlinge als “Stamm” im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft zu bezeichnen, da es keinerlei Indizien für ein gemeinsames Stammesbewußtsein, für Mythen über eine gemeinsame Abstammung oder für sprachliche Gemeinsamkeiten gibt. (Dazu: Dieter Geuenich, in DIE ALEMANNEN Hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württem-berg, 1997) Nicht wenige Alemannen gehen in römische Heeresdienste, es kommt geradezu zu einer Germanisierung des römischen Heers – und umgekehrt zu einem hohen Romanisierungsgrad der germanisch-alemannischen Oberschicht. Gesiedelt wurde übrigens auf gut erschlossenem, fruchtbarem Land, bei und in verlassenen Gutshöfen, die durch alemannische Holzbauten ergänzt werden. Und gesiedelt wird nicht in der Fläche, sondern in “Inseln” – dies ist ein Hinweis auf die Existenz zahlreicher Teilstämme, die sich lediglich zu Zweckgemeinschaften zusammentun und die generationenlang mit römischen Gemeinschaften zusammenleben. Geschieht sie jetzt, die alemannische Ethnogenese, die das 19. Jh. so gerne als Dominanz eines reinrassigen Stammes gesehen hätte ? Die Antwort der Anthropologen heute: Bereits während der römischen Besatzung treffen wir in unserm Raum Mischpopulationen an – nach dem Limesfall trifft das Konglomerat der alemannischen Teilstämme auf romanisierte keltische, später galloromanische Gruppen – über Dauer und Umfang der Integrations- bzw. Assimilierungs- oder Überschichtungsphänomene können wir nur spekulieren. (Joachim Wahl, Ursula Wittwer-Kunter, Manfred Kunter, ALEMANNEN IM BLICKFELD DER ANTHROPOLOGIE, a.a.O.1997)

Also: Schreiben wir doch die Schulbücher um – ersetzen wir die blutigen Leitbilder der Landnahme, der Überwältigung, der ausrottenden Sieger und der ausgelöschten Besiegten durch Modelle vielgestaltiger Koexistenz, spannungsreicher ethnischer und kultureller Vielfalt – ich denke, so ist etwas am Oberhein entstanden, das zwar weniger einer Wagneroper gleicht, aber dafür einer dem klugen Volksleben abgelauschten, mit gesundem, liberalen Menschenverstand erzählten Geschichte des badischen Dichters und Kalendermanns Johann Peter Hebel (geb. 1760 in Basel – gestorben 1826 in Schwetzingen bei Karlsruhe). Mit solchen Geisteshaltungen der Offenheit für andre Identitäten und des toleranten, neugierigen Bescheidwissens über nahe und ferne Nachbarn – und auf unserm kleinen blauen Planeten gibt es eigentlich keine echte Fremde mehr, unsere enge Menschenwelt hatte es ja schon lange vor der sogenannten Globalisierung mit den Lebens- und Koexistenzproblemen von Nachbarn zu tun – mit solcher Mentalität ist natürlich weniger gut STAAT mit allen Formen der Herrschaftsausübung zu machen, wohl aber KULTUR im schönen Ursprungssinn des Wortes: Man taugt damit eher zum geduldigen Fleiß des Bauern und Gärtners, zum Pflanzen, Wachsenlassen und Ernten, als zum Hauen und Stechen der Kriegs- und Staatspersonen, die dort nehmen, wo etwas gewachsen ist. Bevor ich mich nun aber in die Nähe einer als Schlicht-Humanismus und Neo-Biedermeier mißzuverstehenden Ideologie bewege, will ich meine kleine Entheroisierungs-Kiste des Alemannischen zu Ende zimmern, um dann mit ein paar Namen, Gedanken, Geschichten und Gedichten das hineinzutun, was für “Mein Alemannien” steht.

Ich kann unter den Denkschichten des 19.Jahrhunderts buddeln, wo ich will: Ich finde in der Zeit der germanischen Staatengründungen kein imperiales allemannisches Gebilde, lese vielmehr heraus, daß die sogenannten Alemannen, ein polyzentrisches, loses Konglomerat von Verwandten, ihre Kräfte nicht zentriert, sondern regionalisiert, oder in der nicht ideologiefreien Sprache der Historiker, ihre Kräfte verzettelt haben (Karl Friedrich Stroheker, in: DIE ALEMANNEN IN DER FRÜHZEIT, herausgegeben von W. Hübener 1974. Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg, Nr.34) Der tiefere Grund dafür muß in dem lockeren Aufbau des Stammes gesucht werden, der es nie, und zwar sicher nicht nur aus geographischen Gründen, zu einer wirklichen politischen Einheit gebracht hat. Die regionale Eigenständigkeit entsprach vielmehr wohl von Anfang an alemannischer Art. (a.a.O. S.26)

Der Zusammenprall mit dem fränkischen System zentralistisch agierender Königsgewalt, die es unternimmt, über die Alpen auf den römischen Kaisertron zu springen und alle regionalen Kräfte und Autoritäten nur als Vasallen von fränkischen Gnaden zu tolerieren, gerät für den alemannischen Adel zum Desaster: 746 wird in der sogenannten BLUTNACHT VON CANSTATT alles niedergemacht, was den Kopf höher trug, als den Franken recht war. Dennoch sind die Nachrichten aus dem frühen und sich danach entwickelnden Alemannien nicht etwa nur Botschaften aus dem Totenreich. Die Zeit raffend können wir sehen, wie sich eine Kultur friedfertiger Seßhaftigkeit entwickelt, in der Klöster (wie Weißenburg, Reichenau oder St.Gallen) und Städte (wie Konstanz, Chur, Basel, Freiburg, Colmar und Straßburg) zu einem Netz der kulturellen Kraftorte über dem Geflecht der Siedlungen heranwachsen. Die erstaunlichste Gemeinsamkeit dieses zentral in Europa gelegenen interregionalen Raums ist die alemannische, in Mundarträumen differenzierte Sprache – ihr Gebiet läßt sich bis heute in den von Chlodwig um 500 abgesteckten Grenzen in ihren charakteristischen Merkmalen abhören. Auch innerhalb des zwischen Vogesen, Murg, Alpenrand und Iller überlebenden Sprachklangs haben sich alte Sprachentwicklungsgrenzen erhalten; an einer solchen Linie lebe ich: Südlich von ihr heißt es Chind, nördlich Kind – es wird also der von der Schweiz her vertraute Klang eines kräftigen Rachenlauts schon wenige Kilometer südlich von Freiburg angestimmt.

Das reiche, und in herzhafter Konkretheit unter den Jahrhunderten oberrheinischer Geschichte liegende Grundwasser der Sprache ist von vielen kreativen Geistern durch über ein Jahrtausend aufgenommen worden – von übersetzenden Mönchen, von Predigern, Juristen des Volksrechts, Minnesängern und bürgerlichen Lied- und Meistersingern. Es war aber doch fast ausschließlich ein mündlicher Reichtum. Das Verdienst, ihn als immer noch mündliche Mundart in Gedichten geschrieben und mit dem von der Hoch- und Bildungssprache verschütteten Namen “alemannisch” genannt zu haben, gehört dem vorhin schon erwähnten, von Goethe, Tolstoi, Tschechow, Kafka und Kleist, Walter Benjamin und Ernst Bloch, Kurt Tucholski und Heinrich Böll bewunderten Johann Peter Hebel. Er hat im badischen Karlsruhe aus Heimweh nach dem badischen Oberland bei Basel über die heute zu belächelnde Distanz von 170 Kilometern im kurzen Schub von wenigen Monaten ein Bündel von Gedichten geschrieben, die er alemannisch nannte, und mit denen er als großer Lateiner probieren wollte, ob sich seine Muttersprache ins Kleid der Verse und Metren des Catull oder Horaz einkleiden ließe. Aus der Heimweh- und Versübung wurde ein kleines, 1803 erschienenes Bändchen, dessen spontaner literarischer Erfolg bis heute einmalig geblieben ist. Rezensiert und gelobt von prominenten Zeitgenossen wurden die wahrlich nicht leicht zu verstehenden und zu sprechenden Texte von den besten Rezitatoren der Zeit auf den europäischen Bühnen vorgetragen – eine erstaunliche Rezeptionsgeschichte, die nur vor dem Hintergrund der durch Herder geweckten Interessen für die Stimmen der Völker und ihre natürliche Hauptschönheit zu begreifen ist. Aus dem Mundartpoeten wurde sieben Jahre später (1811) der Kalendermacher und Geschichtenerzähler Hebel, ein Medienschaffender seiner Zeit, dessen Produkte von vielen Hunderttausenden gelesen und geschätzt wurden, und dies die Leserzahlen vervielfachend bis heute – auch dies ein erstaunlicher Welterfolg einer für den Tagesgebrauch geschriebenen regionalen Publikation. Eine der schönsten Anekdoten der Wirkungsgeschichte dieser KALENDERGESCHICHTEN hat Elias Canetti erzählt: Er war 1936 in Wien von dem bedeutenden Rezitator Ludwig Hardt besucht worden, der, als Reisetalisman, ein Exemplar des Hebelschen SCHATZKÄSTLEINS bei sich trug – das Teuerste, was ich besitze, er zeigte auch die Widmung, die das Büchlein so seltsam und kostbar machte: Für Ludwig Hardt, um Hebel eine Freude zu machen, von Franz Kafka – es war also Kafkas eigenes Exemplar, geschenkt aus Bewegung über die Rezitationskunst Hardts, aber auch über Hebels Erzählkunst, die Kafka tief berührt hat.

Die Versuche, die Eigenart und die zeitlose Qualität Hebels zu interpretieren, füllen eine ganze Bibliothek – die für mein eigenes Lesen und Arbeiten wichtigsten Gedanken über diesen jungen, alten Hebel verdanke ich dem Elsässer Robert Minder, der Hebel, den frommen Aufklärer und souveränen Betrachter der Grundtendenzen seiner Zeit, einen Klassiker der Koexistenz nannte. Ernst Bloch fügte dem seine Analyse des citoyens Hebel hinzu, der ein bewußt fortschrittsfreundlicher Bürger und Parlamentarier war, ein wichtiger Name im großen Reservoir aktiver, weltläufiger Demokraten in der badischen Geschichte, also alles andere als ein altmodisches, nettes Scherenschnittprofil aus der mausetoten Biedermeierzeit.

Liebe Zuhörer, ich habe versucht, Ihnen “Mein Alemannien” als einen europäischen Landstrich zu skizzieren, der dazu anregt, der Geschichtsschreibung “von oben” eine “von unten” zu schreibende Geschichte entgegenzusetzen, dabei den Bedingungen und Formen kreativer Koexistenz mehr Gewicht beizumessen, als dem Geklirre und Getöse der Eroberungen und Überwältigungen der Kriegs- und Staatengeschichte. Ich schulde Ihnen aber doch noch einen kleinen Blick in mein “Schatzkästlein” von Namen, die als nützliche Helfer solcher Lebensart dienen können: Da liegt der herrliche barocke Sprachspieler Abraham a Sancta Clara (1644-1709) neben dem künstlerisch und biographisch zweisprachigen Dadaisten und Bildhauer Hans (Jean) Arp (1886-1966). Da ist der zweisprachig elegante René Schickele (1883-1940), der unsere Landschaft am Rhein als die zwei Seiten eines aufgeschlagenen Buchs bezeichnet hat, neben dem Sulzburger Orientalisten Gustav Weil (1808-1889), der als erster die GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT aus den arabischen Quellen vollständig ins Deutsche übersetzt hat – ein vielsprachiger Vorläufer vergleichender Kulturwissenschaft, der erste Jude auf dem Lehrstuhl einer badischen Universität. Ich merke, ich komme ins Aufzählen von Namen, die sich doch zu einer langen Kette auffädeln, ehe ich zu unsern Tagen komme, in denen die großen Bilder- und Geräuschmaschinen der Massenmedien alles daransetzen, das Eigenrecht und das eigene Gesicht regionaler Kulturen mit dem Sandstrahl der Trivialitäten und Beliebigkeiten bis aufs Niveau der flachsten Gleichgültigkeit runterzuschleifen. Was wir in unseren Regionen dagegensetzen können, bringt das etwas zustande, das sich in unserer Gesellschaft, in unserer Alltagskultur lebendig und eigensinnig und gegenströmig bemerkbar machen kann? Der Lyriker Peter Rühmkorf schrieb: Natürlich kann man seine politischen Hoffnungen lange unbeschadet ins weite Himmelblau treiben, ohne daß sich an der gesellschaftlichen Basis auch nur das Parkett verzieht (In: DIE JAHRE, DIE IHR KENNT, Rowohlt 1972). Man sollte es nicht glauben: Manchmal verzieht sich sogar mehr als ein Fußboden, sondern eine ganze Wolke politisch und wirtschaftlich unreifer Pläne für ein Kernkraftwerk in Wyhl, wenn eine VOLKSHOCHSCHULE WYHLER WALD mit einem Liedermacher wie Walter Moßmann dagegen mit dem Geist der Lokalvernunft anbläst. Das war in den 70-er Jahren – aus unsern Tagen will ich zum guten Schluß nur zwei Beispiele erwähnen, die Lebenszeichen aus meinem Alemannien sind: Die grenzüberschreitende, eigensinnige Zeitschrift ALLMENDE, und dann ein witziges Buch, in dem eine Gruppe junger Leute Mark Twains ABENTEUER DES HUCKELBERRY FINN ins heutige Alemannisch übersetzten – oder wie sie sagten: sie “schmuggelten” den Text ins Alemannische. (Wendelinus Wurth, Drey-Verlag, Gutach, 1997). Sie sehen, daß bei uns mit Grenzen noch immer kreativ umgegangen werden kann.

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N12 / 1998

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