Redaktiongruppe:

Taras Wozniak (Chefredakteur)
Walter Mossmann
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Walter Kaufman
Andrij Pawlyschyn
Sofia Onufriv (Mitredakteur)
Mykhajlo Moskal
Oleksandr Kryvenko
Mykola Yakovyna
Andrij Shkrabjuk

Unabhaengige Kulturzeitschrift “JI”
Die Ausgabe 12 / 1998
UKRAINA-POLSKA-FRANCE-DEUTSCHLAND. ZWEITES GESPRAECH UEBER GRENZEN

Dieses Heft erschien in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Boell-Stiftung (Berlin)

VERZEICHNIS
AUTOREN
ukr (PDF 1,2 Mb)

Walter Mossmann

EINE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART

Die Begegnung kam ganz zufällig zustande.

Man könnte auch sagen: wir wurden gelegentlich zusammengewürfelt.

Genau genommen sind wir nur deshalb miteinander ins Gespräch gekommen, weil es da zufällig eine Gelegenheit gab, nämlich die Städtepartnerschaft zwischen Lemberg und Freiburg, die noch aus der sowjetischen Epoche herüberragte. Als Städtepartner sind wir uns also begegnet, dann haben wir uns im Lauf der 90er Jahre in ein recht interessantes Gespräch vertieft, nach und nach auch andere Gesprächspartner aus unse-rer direkten Nachbarschaft Frankreich und Polen hinzugezo-gen, schließlich wurde die ganze Veranstaltung mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung als GESPRÄCH ÜBER GRENZEN auf Projektebene gehoben, und als vorläufige Höhepunkte fanden zwei Tagungen statt, in Freiburg 1997, in Lwiw 1998. Die Er-gebnisse, d.h. die für den Druck bearbeiteten Redemanuskripte und Materialien, legen wir nun in den Nummern 11 und 12 der lwiwer Kulturzeitschrift "Ji" vor.

Die meisten Teilnehmer des GESPRÄCHS ÜBER GRENZEN befanden sich zunächst in derselben Lage wie (ver-mutlich) die meisten Leser dieser Hefte: Nichts genaues weiß man nicht. Für uns, die Westler, hatte sich jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang die ungeheure Weite einer gar nicht sehr einladenden terra incognita ausgebreitet, jener scheinbar monolithische Ost-Block mit dem frostklirrenden Zentrum Moskau, das nirgends so real existierte wie in der Tagesschau. Den Ostlern hingegen erschien unser Oberrheintal als eine Re-gion des märchenhaften Überflusses ("Quel beau jardin!") und der grenzenlosen Harmonie, sie duftete nach allem, was ihnen mangelte, so wie den Westdeutschen nach dem Krieg das ameri-kanische Goldorangenland geduftet hatte.

Und dann Galizien.

Alle diese Namen, die man schon irgendwann gehört oder gelesen hatte, ohne sie genau verorten zu können. Das Traklsche GRODEK zum Beispiel - gab es das wirklich? In der Tat: eine Kleinstadt, ukrainisch "Horodok", eine halbe Stunde westlich von Lemberg (eine "Grodeker Straße" führt dort hin-aus), wo vom 24. bis zum 29. August 1914 eine fürchterliche Schlacht zwischen Russen und Österreichern getobt haben muß (in beiden Armeen ukrainische Soldaten). Georg Trakl, der damals 28jährige Dichter aus Salzburg, der erschrockene Sanitäter, der Kokainschnupfer, schrieb das berühmte Poem wenige Monate vor seinem Tod im Krakauer Lazarett. Für das deutsch-ukrainisch-polnische Programm SPIEGELUNGEN - TEXTE UND NEUE MUSIK (mit dem frei-burger ensemble recherche) hat der lwiwer Lyriker Timofij Hawryliw 1996 die ukrainische Nachdichtung verfaßt (11, p:61/99).

Knapp 30 Jahre später die deutschen Ghettos und die deutschen Vernichtungslager in Galizien. Nein, die heutige westukrainische Region Halytschyna hat nur noch wenig gemein mit dem polnischen Galizien der Vorkriegszeit, wo einmal das galizische Judentum zuhause war. Thomas Held hat im Rahmen der GESPRÄCHE über die Lemberger Ereignisse der Jahre 1941 bis 44 referiert. (Sein Text "VOM POGROM ZUM MASSENMORD" erschien in dem ebenfalls der freiburger Kulturpolitik geschuldeten Band LEMBERG-LWOW-LVIV, Böhlau Verlag 1995). Daran anknüpfend untersucht der Kiewer Soziologe Leonid Finberg die Situ-ation in der heutigen Ukraine: "UKRAINIAN-JEWISH RELA-TIONS: MYTHOLOGIE SUBSTITUTING FOR REALITY" (11, p:92), und konstatiert dort u.a., daß ein enormer Nachhol-bedarf an Forschung und öffentlicher Diskussion über den Antisemitismus und die Geschichte des ukrainisch-jüdischen Zusammenlebens besteht.

Erschwert wird diese Diskussion allerdings zur Zeit noch durch die ukrainische Rechtfertigungs-Sucht und die deutsche Beschuldigungs-Wut. Schnell, hart und unge-recht fallen die Urteile der Westler. Ich nehme mich dabei nicht aus. Nach einem Interview mit dem Karpathenbauern Josyp Onufriw aus Kortschen im Jahr 1992 war ich fest davon überzeugt, in diesem bekennenden Nationalisten und UPA-Sympathisanten einen antisemitischen Kollaborateur kennen gelernt zu haben, bis sich nach seinem Tod herausstellte, daß er in Israel als "Gerechter" geehrt wird, weil er in der Nazizeit mehrere jüdische Familien versteckt und ihnen zur Flucht verholfen hat. Mit Widersprüchlichkeiten dieser Art befaßt sich der Text "GESPRÄCHE MIT JURKO" (11, p:10), der Anfang 1997 als eine Art Prolog zu GESPRÄCH ÜBER GRENZEN geschrieben worden ist.

Zwei Essays Lemberger Autoren sind dazu geeig-net, ein westliches Lesepublikum an die polnisch-ukrainische Grenze heranzuführen: Oles Pohranytschnyj (sein Name heißt übersetzt: Der Grenzer) erinnert mit seinem Text "KONZERT FÜR EINEN GRENZER MIT DER GRENZE" (11, p:117) an jene erst kürzlich beendete Epoche, in der die ukrai-nische Westgrenze gleichzeitig auch die Grenze der Sowjet-union war, ein bis an die Zähne bewaffneter Zaun, eine "Ent-eignungszone", eine "sterile Dichtung", ein "Schutzwall", von den Kindern erlebt als "das Ende der Welt". Eine Grenze, die wir im Westen gar nicht mehr wahrgenommen haben, weil uns die Berliner Mauer die Sicht nach Osten versperrte. Jurko Prochasko untersucht in "UKRAINE: RAND ODER LAND" (11, p:4) die wechselhafte Bedeutung des Wortes UKRAINA und jene absichtsvolle Pseudo-Ethymologie, die das Land Ukraine zu jedermanns "Grenzland" machen wollte. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß Jurko diesen Text in deutscher Sprache verfaßt hat.

Die Grenze an San und Bug existiert noch nicht sehr lange. Über ihre Genesis zwei Texte aus Przemysl bzw. Warschau, einmal von Stanislaw Stepien und Anna Rogows-ka "FÜNFZIG JAHRE POLNISCH-UKRAINISCHE GRENZE" (11, p:20), sowie von Tadeusz Olszanski "ZUR ENTSTEHUNG DER POLNISCH-UKRAINISCHEN GRENZE" (12, p:20). Zwei nüchterne Bestandsaufnahmen ohne die üblichen Ressenti-ments und Klagen über die "verlorenen polnischen Ostgebiete". Das ist beileibe nicht selbstverständlich, denn auf verletzte nati-onale Gefühle und revanchistische Begehrlichkeiten spekuliert nicht nur in Deutschland eine Politik, die vom rechten Rand weit in die sogenannte Mitte ausgreift.

Mit seinen "STUDIEN ZUR ENTSTEHUNG DER POLNISCH-UKRAINISCHEN KONFLIKTE" (11, p:56) hat der lwiwer Historiker Andrij Pawlyschyn etwas gewagt, was offen-bar erst neuerdings gewagt werden kann. Er hat nämlich ver-sucht, eine nicht-apologetische neuere Geschichte der gegensei-tigen völkischen Verteufelungen, der Kämpfe, der Kriege und der Vertreibungen zu skizzieren. Gegenläufig parallel dazu ord-net Stanislaw Stepien in seinem Aufsatz "DAS GEMEINSAME KULTURERBE" (12, p:148) allerlei historisches Material vom frühen Mittelalter bis in die Nachkriegszeit, das für Zusammen-arbeit im beiderseitigen Interesse spricht. Und schließlich ent-wirft Andrij Pawlyschyn "PERSPEKTIVEN FÜR EINE VER-STÄNDIGUNG AN DER GRENZE" (12, p:138) und gibt damit einige wichtige Stichworte für eine weiterführende Diskussion.

Wenn eine solche künftige Diskussion tatsächlich zu Fortschritten weiterführen sollte, bräuchte es auch in Zu-kunft die Vermittler zwischen den beiden Ländern, jene Grenz-gänger, auf die man hört, so wie man seinerzeit auf Andrej Graf Scheptyckyj gehört hat, der als Metropolit der ukraini-schen griechisch-katholischen Kirche fast ein halbes Jahrhun-dert lang (1901-1944) auf dem St.Georgs-Hügel in Lemberg regierte. Zwei Arbeiten beschäftigen sich mit seiner Rolle in den komplizierten Verhältnissen jener Epoche. Einmal "DER METROPOLIT" (11, p:82), ein bewußt ikonografisches Portrait von Andrij Schkrabjuk, und ein bei aller Bewunderung und Sympathie auch kritischer Text von Anna Veronika Wendland "DER METROPOLIT. VERSUCH ÜBER ANDREJ SCHEPTYC-KYJ" (11, p:106).

Für uns Westler war es recht interessant, einmal sozu-sagen auch von Osten her, nämlich durch die Brille der ukraini-schen Historiker auf das imperiale Profil der polnischen Großmacht zu schauen (so kannten wir Polen gar nicht) und bestimmte Muster des traditionellen ukrainischen Polenbildes mit dem traditionellen deutschen Polenbild zu vergleichen. Dazu vier literarische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert: Sowohl Nikolai Gogol in der berühmten, in Hollywood verfilmten Erzählung "TARAS BULBA" von 1835 (11, p:14) als auch Taras Schewtschenko in seinem Versepos von 1841 "DIE HAIDAMAKEN" (11, p:54) legen den polnisch-ukrainischen Konflikt in eine heroische Vergangenheit und konzentrieren ihn auf den Glaubenskrieg zwischen den herrschenden römisch-katholi-schen Polen und den revoltierenden orthodox-ukrainischen Ko-saken, eine Sache auf Leben und Tod, selbst in der eigenen Familie. Den deutschen Autoren dagegen begegnen die Polen grundsätzlich als bemitleidenswerte Opfer der Zaren-Despotie, als romantische Revolutionäre, auf die sich die deutschen Freiheitswünsche vortrefflich projizieren lassen. In diesem Sinne vollkommen political correct und nach dem Geschmack seiner freiheitlich gesonnenen und vormärzlich gestimmten Zeitgenossen das Polenlied des August Graf von Platen von 1831 "VERMÄCHTNIS DES STERBENDEN POLEN AN DIE DEUTSCHEN" (11, p:37) mit jener unangenehm klirrenden Zeile: "...und (wir, die Polen) atmen unsern Russenhaß in eure (deutschen) Seelen aus". Ganz anders dagegen treibt Heinrich Heine dann 1851 in "ZWEI RITTER" (11, p:72) sein ironisches Spiel mit dem Widerspruch zwischen der romantisch-heroischen Inszenierung der polnischen Freiheitskämpfer auf der Pariser Bühne und den banalen Realitäten des Exils, das allerhand unheroische Überlebenskünste verlangt, besonders wenn es sich in die Länge zieht.

Zwischen Lemberg und Freiburg liegen 1600 km, aber das macht den Abstand nicht aus. Den Abstand zwischen diesen beiden ex-habsburgischen europäischen Grenzregionen hat die neu-este Neuere Geschichte hergestellt, und infolgedessen bestaunen wir wieder einmal das Mysterium der Ungleichzeitigkeit. Denn während unsere Partner die total mißglückte UNION (der sozialistischen Sow-jetrepubliken) fliehen und versuchen, sich selbständig zu machen, mit einer eigenen nationalen Währung und allem drum und dran, bauen wir gerade die (europäische) UNION auf, mit einer gemein-samen Währung und allem drum und dran. Während die Ukraine das vor 50 bzw. 80 Jahren unvollendet liegengebliebene Projekt der Nationbildung mit großen Hoffnungen und großen Gefühlen wieder aufgreift, sind wir froh, das Prinzip Nationalstaat nach all den Katas-trophen des 20. Jahrhunderts wieder loszuwerden, d.h. in den größe-ren europäischen Strukturen aufgehen und verschwinden zu lassen.

- Der freiburger Historiker Peter Fäßler legt mit dem Text "DIE WACHT AM RHEIN" (12, p:38) einen ziemlich abschreckenden historischen Abriß über die Geschichte der deutsch-französischen Grenze am Oberrhein vor und zeigt, wie eine noch im 15. und 16. Jahrhundert aufs schönste integrierte und blühende Region im Zuge der modernen Nationalstaatsbildung durch eine angeblich "natürli-che" Grenze zerschnitten wurde, wie diese Grenze in drei mörderi-schen Kriegen zur fixen Idee geriet, wie sie einbetoniert, umkämpft, gesprengt und hin und hergeschoben wurde, und welche Mühe es kostet, nach soviel Haß und Tod und Leiden und Verbiesterung die historische Fehlentwicklung im Interesse der europäischen Einigung wieder auf Null zurückzudrehen.

- Die Idee vom grenzüberschreitenden aleman-nischen Lebensraum, in dem auf der Basis einer gemeinsamen Volkskultur Zusammenhänge quer zu den Strukturen der vier betroffenen Nationalstaaten entstehen könnten, untersucht - autobiografisch, skeptisch, engagiert - der Autor und Kultur-arbeiter ("Kulturologe" würde man in Lwiw sagen) Wolfgang Heidenreich in seinem Essay MEIN ALEMANNIEN (12, p:12). Als Anhang zu seinem Text präsentiert er kleine Prosastücke von 5 Autoren seiner Wahl: Von dem alemannischen Klassiker JOHANN PETER HEBEL (p:34) und der Lyrikerin von Rang MARIE LUISE KASCHNITZ (p:32), von dem als "der kuriose Dichter" wiederentdeckten HANS MORGENTHALER (p:30) und von den Heutigen FRANZ HOHLER (p:33) und PETER BICHSEL (p:31) - die drei Letzteren alle aus der Schweiz.

- Schließlich der Elsässer Jean Jacques Rettig, Zeitzeuge, ökologischer Aktivist und autobiografisch orien-tierter Autor über LE REGIONALISME DES ANNEES 70 (12, p:74). Er beschreibt, wie sich - keineswegs unter der Fahne ir-gendeiner Ideologie! - aus ziemlich einfachen und praktischen Erwägungen in den 70er Jahren gegen die damalige Politik sämtlicher Regierungen in Bonn, Paris und Bern jene berühmte grenzüberschreitende deutsch-französisch-schweizerische ökologische Volksbewegung am Oberrhein entwickelt hat, als deren Erbe sich z.B. auch die heutige deutsche rotgrüne Re-gierung versteht. (Ob sie dazu ein Recht hat, muß sie noch be-weisen.)

Im Schlepptau von Jean Jacques Rettig drei Dichter aus dem Elsaß: In französischer Sprache "CONFIGURATION STRASBOURGEOISE" von Hans Arp (p:90), in deutscher Spra-che "Die Aschenhütte" und "In Jeder Amsel Hab Ich Dich Geliebt" von Yvan Goll (p:94), und insgesamt fünf Gedichte im elsässischen Dialekt nebst einem programmatischen Prosa-fragment von André Weckmann (p:98) aus den 70er Jahren. (Weckmanns Gedichte leben natürlich vor allem als laut ge-sprochene, rezitierte Verse, als Mund-Art, die Schriftform bleibt immer nur quasi eine Notation).

Daß die deutsch-französische Zweisprachigkeit im Elsaß etwas völlig anderes bedeutet als die ukrainisch-russi-sche in der Ukraine (im Elsaß eine Überlebenschance für das Elsässische, in der Ukraine dagegen eine Gefahr für das Über-leben des Ukrainischen überhaupt), haben wir inzwischen ge-lernt. Auch der Verweis auf die dreisprachige Schweiz, der den Westlern so leicht von der Zunge geht, macht keinen Sinn, denn die Existenz und Weiterentwicklung der 3 schweizer Sprachen wird ja außerhalb der Schweiz durch die riesigen Sprachagenturen in Frankreich & Belgien, Deutschland & Österreich sowie in Italien garantiert, aber das Ukrainische würde verschwinden, wenn es in der Ukraine selbst unter die Räder käme. Zu diesem Problem der Sprachgrenzen im eige-nen Land ein sehr nachdenklicher, informativer und skeptischer Text von Emilija Ohar "ZWEISPRACHIGKEIT IN DER UKRA-INE HEUTE" (12, p:110). Wir haben an den lwiwer Kiosken gesehen, welchen Beitrag ein international operierender, expan-dierender Verlag aus der Oberrheinregion für die Zerstörung des Ukrainischen leistet: Der Burda-Verlag aus Offenburg ver-kauft dort nämlich seine attraktiven bunten Massenblätter für Hausfrauen, Teenager usw. unter dem ausdrücklichen Etikett UKRAINISCHE AUSGABE - in der russischen Version. Selbst-verständlich ist das "kostengünstiger", als wenn man 2 unter-schiedliche Ausgaben herstellen müßte. Und möglicherweise ist auf die Dauer gegen soviel ökonomische Selbstverständlich-keit kein Kraut mehr gewachsen.

Emilija Ohar stellt keine Prognose für das nächste Jahrtausend, aber die Politiker riskieren dann doch einen Blick in die Zukunft:

- Taras Wozniak, nach einem historischen Exkurs über 1000 Jahre Krieg und Frieden und Betrachtung der "MODELLE DES POLNISCH-UKRAINISCHEN GEGENEINAN-DER-NEBENEINANDER-MITEINANDER" (11, p:39), stellt als erster die für die Zukunft entscheidende Frage, wie sich wohl die europäische Westintegration Polens auf die polnisch-ukrai-nischen Grenze auswirken wird. Zum Optimismus verdammt, formuliert er Szenarien, nach denen die Ukraine hinter einem "Lotsen" Polen im "Tandem" nach Europa gelangen könnte. Ansonsten falle die Tür zum Westen, die sich in den 90er Jahren gerade erst geöffnet hat, zum Schaden aller und mit einem lauten Knall wohl wieder zu.

- Ziemlich detailliert beschreibt dann Wilfried Tel-kämper, Mitglied des Europaparlaments (Partei: Bündnis 90/Die Grünen), in seinem Text "SCHENGEN UND DIE FOLGEN. ÖFFNUNG NACH INNEN - ABSCHOTTUNG NACH AUSSEN" (12, p:184), wie sich das unierte Europa nach innen als "Schen-genland" grenzenlos konstituiert und nach außen furchtsam und rigoros abgrenzt.

- Gernot Erler, Bundestagsabgeordneter und stellver-tretender Fraktionsvorsitzender der SPD in Bonn (bzw. Berlin) bringt nun in seiner Skizze "POLEN UND DIE UKRAINE: SUB-JEKTE ODER OBJEKTE IM PROZESS DER EUROPÄISCHEN IN-TEGRATION" (12, p:196) als potentielle Gegenfigur zur Euro-päischen Union die Russische Föderation ins Spiel. Er warnt davor, das Glück einer NATO- oder EU-Mitgliedschaft zu über-schätzen, die Motive der westeuropäischen oder us-amerika-nischen Außenpolitik als altruistisch mißzuverstehen und die ostmitteleuropäischen Verhältnisse unter Ausblendung Ruß-lands neu gestalten zu wollen. (Geschrieben wurde dieser Text noch vor den September-Wahlen. Ob der Machtwechsel in Deutschland auch Auswirkungen auf die europäische Ostpolitik haben wird, zeichnet sich noch nicht ab.)

Soweit der Stand der Dinge im GESPRÄCH ÜBER GRENZEN. Fortsetzung folgt.

An dieser Stelle nur noch zwei Schlußbemerkungen:

1. Zum Problem der Coverköpfe.

- Seit dem Erscheinen von Journal Nr.11 wird gefragt, welche be-rühmte Person der Zeitgeschichte denn diesmal auf dem Cover abge-bildet sei und wessen Uniform der junge Krieger trage. Antwort: Dieser Krieger, blutjung, wie man so sagt, ist keine Berühmtheit, aber die Uniform macht aus ihm einen Angehörigen der polnischen Armee. Vielleicht befindet er sich im Krieg mit den Ukrainern, vielleicht bereitet er sich darauf vor, Polen gegen die heranrollende Hitler-Armee zu verteidigen, vielleicht hat er ukrainische Verwandte auf der anderen Seite, und diese gehen mit den Nazi-Deutschen, oder mit der Roten Armee, oder auf eigene Faust zu den Partisanen. Auf dem rückseitigen Deckblatt sieht man ihn wieder, offenbar älter geworden, vermutlich in den 50er Jahren, in der Trümmer-, in der Aufbau-, der GuLag-Zeit. Und die Uniform ist er los.

- Und um heute schon alle künftigen Fragen zum Cover-Portrait von Journal Nr.12 zu beantworten: Es gibt keine näheren Auskünfte. Vielleicht ist diese Frau die Mutter des Kriegers, viel-leicht auch nicht. Vielleicht trägt sie das "nationale Kostüm", wie man in der Ukraine sagt, sozusagen die ethnische Uniform der ver-heirateten Frau, irgendwo in den Karpathen. Oder der Kopfputz gehört zur traditionellen Tracht im (badischen) Glottertal oder im (elsässischen) Munstertal. Vielleicht sind ihre Gesichtszüge typisch slawisch, oder gallisch, oder keltisch, oder tatarisch, oder rätoroma-nisch oder sonstwie typisch für definitiv unbekannte Herkunft. Ob sie sich ohne die Folklorekrone leichter fühlt, wissen wir nicht.

2. Ein abschließendes Urteil des in Lemberg geborenen großen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec über unsere unermüdlichen Be-mühungen um das richtige Dolmetschen, Übersetzen, Vermitteln zwischen Ukrainern, Deutschen, Polen, Franzosen im GESPRÄCH ÜBER GRENZEN:

Daß sich die Menschheit
noch nicht restlos
aufgefressen
hat,
haben wir der segensreichen
Pause
im Bau des Babelturmes
zu verdanken -
zum Glück
verstehen die einen nicht,
was die anderen
reden.

Und ihr wollt diese
Idylle
zerstören?

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